Das waren die wilden 80er in Berlin
via Berliner Zeitung
In Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ werden Erinnerungen durch den Geschmack einer Madeleine hervorgerufen. Romy Verbaarsschott aus Den Haag ist 1974 auf der Suche nach der verlorenen Frei-Zeit. Und findet im Kiez um den Nollendorfplatz Räume für ihren Nachtclub Chez Romy Haag. Mit ihrem Show- und Travestieprogramm möchte die Sängerin an Berlins altes Image als Eldorado des Sexualforschers Magnus Hirschfeld und dem Mythos der wilden Zwanzigerjahre anknüpfen.
Sub- und Hochkultur auf Augenhöhe
Allenthalben wird ein baldiges Scheitern des Vorhabens prognostiziert. Doch ihr Etablissement entwickelt sich schnell zu einem der populärsten Orte in der noch geteilten Stadt. Im Chez Romy Haag treffen internationale Popstars wie Lou Reed, David Bowie und Tina Turner auf deutsche Prominente wie Rainer Werner Fassbinder, Ingrid Caven und Udo Kier. Sub- und Hochkultur begegnen sich auf gleicher Augenhöhe. Die Kategorien U und E sind passé. In der Berliner Luft, sagt Romy Haag heute, lag nun eine einzigartige Melange aus den Parfüms Shalimar und Habit Rouge.
Zu den Besonderheiten der westlichen Stadthälfte zählte nach 1949 die Nichtexistenz einer Sperrstunde. In manchen Lokalen konnte Tag und Nacht getrunken, diskutiert, monologisiert oder gefeiert werden. Dabei begegneten sich pausierende Taxifahrer, Prostituierte aller Geschlechter, Künstler, Schriftsteller, Politaktivisten, Kriminelle, Außenseiter, Einsame und Vergnügungssüchtige. Projekte entwickelten sich im nächtlichen Chaos und wurden bisweilen Realität.
Unterbrechung für eine Stunde – und weiter geht’s
Einer dieser Treffpunkte war das Bierlokal Rote Rosen nahe des aktuell skandalisierten Kotti. Auch heute noch wird gegen fünf Uhr der Getränkeausschank für eine Stunde unterbrochen, der Boden gewischt und die WCs gereinigt – und weiter geht’s. Seit der Einführung des Nichtraucherschutzgesetzes nennt sich Rote Rosen trotzig „Raucherlokal“. In den Achtzigern trank hier Dramaturg Heiner Müller gern einen Whisky mit Freunden. Gegenwärtig mischen sich vermehrt Hipster und junge Touristen aus aller Welt unter die rarer werdenden Stammgäste. Dass Kreuzberg durch den extremen Zulauf Vergnügungssüchtiger aus aller Welt aktuell auch eine entsprechende Zunahme von Taschendieben, Kriminellen und – nicht zu vergessen – schamlosen Mieterhöhungen verzeichnet, ist hässlich, und Beweis für boomendes Nachtleben.
50 Punks und eine Torte
Noch 1978 landete das SO 36 mit einem ironischen Mauerbau-Jubiläum wie ein Ufo im autonomen Kreuzberger Hippieland. Lokale und internationale Punkbands spielten. Iggy Pop war da, als eine Replik der Berliner Mauer in Gestalt einer Torte angeschnitten wurde. Um Mitternacht, so berichtet Bowie später begeistert in einer TV-Show, hätten sich 50 Punks auf die Mauertorte gestürzt, sie zerteilt und restlos verspeist. In Kreuzberg dominierten damals Spontis und Polit-Anarchisten. „Es gab noch keine Punkkneipen, nur gruselige Alt-68er Spelunken wie das Max und Moritz oder die Rote Harfe“, erinnert sich Thomas Voburka. Er kellnerte in Ingrid und Oswald Wieners Künstlerrestaurant EXIL am Paul-Linke-Ufer. Geschätzten Gästen wie Künstler Dieter Roth oder Joseph Beuys wurde um Mitternacht noch Tafelspitz serviert.
Der Dschungel wurde von Bowie besungen
Zur gleichen Zeit eröffnete in Schöneberg der Dschungel, von Bowie 2013 retrospektiv in „Where are we now?“ besungen. Die Nachtschwärmer, die seinerzeit durch die kohlenstaubgeschwängerte Berliner Winterluft ihrem Ziel Nürnberger Straße 53 entgegenschwirrten, landeten in einer strahlenden New-Wave-Diskothek. Eine elegante Wendeltreppe führte vom Erdgeschoss zur Empore. Dort mixte der hagere Bauzeichner Wolfgang Cihlarz schrille Cocktails, bevor er als Salomé mit großformatigen neo-expressiven Gemälden zum internationalen Shooting-Star wurde. Auf den gelb-schwarzen Mosaik-Fliesen, unter kühlem Neonlicht fühlten sich die Gäste wie auf einem fremden Planeten.
Kein Hinweisschild am Eingang
Von außen versperrten Jalousien den Blick ins Innere – kein Schild, kein Hinweis fand sich an der Eingangstür. Die Szene war extrem überschaubar. Im Grunde ließen die Türsteher jeden hinein – außer Politfreaks mit Bart, Brille und Karo-Hemd beziehungsweise Frauen in selbstgehäkelten Ökogewändern. Im Dschungel tanzte jede schrille Kleidermotte möglichst anders als alle anderen, was am Ende überraschende Ähnlichkeit erzeugte.
Der Mythos seiner Exklusivität entstand mit steigender Popularität. Irgendwann sprach sich herum, dass im Dschungel Liza Minnelli und Prince ohne Bodyguards aufgetaucht waren oder Nina Hagen gratis Grimassen zog. Um den Andrang abzuwehren, wurde Eintritt erhoben und eine Clubmarke für Prominente und Stammgäste geprägt. „Der Eintritt und die Marken waren der Anfang vom Ende, das war damals wie heute meine Meinung“, sagt bis heute DJ Jurij Panfilowitsch. Doch was tun, wenn sich der Ruf verselbstständigt und ein sogenannter Geheimtipp populär wird?
Im 1988 eröffneten Kumpelnest 3000 in der Lützowstraße löste sich dieses Problem zunächst von selbst. Es war die Anwesenheit von Dagmar Stenschke, kurz: Sunshine. Die Einzelgängerin schlug manchmal wild um sich und griff spontan nach den Drinks der Gäste. Wer mit ihrem Verhalten klar kam, der kam wieder, andere verzichteten. „Sunshine war eine Türsteherin des Inneren!“, stellt Tennislehrer und Stammgast Andreas Reiberg fest. Karl Lagerfeld kam bei seiner Fotosession mit Zazie de Paris jedenfalls bestens klar mit der Lady Di von Kreuzberg. Viele Nachtfalter vertrugen Sunshine sogar deutlich besser, als das selbstgebraute Space-Beer aus der Szene-Location Fischlabor.
Frauen als Gründerinnen
Zahlreiche Legenden des Berliner Nachtlebens wurden von Frauen gegründet. So eröffnete Anne Wilke das Punklokal Shizzo 1980 im gutbürgerlichen Friedenau. Die Konzerthalle Loft am Nollendorfplatz leitete Monika Döring, Gudrun Gut und Bettina Köster erfanden das Eisengrau, einen Kultladen für Mode, Fanzines und Musik ein paar hundert Meter weiter in der Goltzstraße.
Auch das für Oskar Röhlers letzten Mutterverarbeitungsfilm 2015 perfekt nachgebaute Schöneberger Punklokal Risiko in der Yorckstraße entstand aus einem Lesbenlokal, dem Blocksberg. Es waren Stefanie Mahlknecht und Freundinnen, die 1980 das Lokal der queeren Kunst- und Punkszene unter dem Namen Risiko öffneten: Der Regisseur und Autor Jörg Buttgereit präsentierte hier 1981 die allererste Hitlerparodie der deutschen Nachkriegszeit – noch auf Super-8. Die coolen Jungmachos, die in Röhlers autobiografischem „Tod den Hippies, es lebe der Punk“ am Tresen stehen, entdeckten das Lokal, nachdem der Spaß längst vorbei war: Im Risiko rettete der 1983 nach West-Berlin gezogene Australier Nick Cave das durch den Einfluss von Romy Haag, Glamrock und Foucault-Lektüre schwer irritierte traditionelle Männerbild. Statt Rotwein und Pfeife am Kaminfeuer begleitete den post-existenzialistischen Herrenabend fortan brauner Tequila, schwarze Gitarrenkoffer, Koks und Speed.
Es geht Richtung Kreuzberg
Die queeren Nachteulen hatten sich da längst Richtung Kreuzberg abgesetzt, ins Frontkino oder die Oranienbar, wo die namenlose, heute weltberühmte New Yorker Fotografin Nan Goldin bizarre Geschöpfe wie den Gonzo-Journalisten Tom Kummer oder die Künstlerin Kiki Smith ablichtete. Im Schaufenster der Kultstätte strippten der kanadische Escort-Boy David Steeves und die Tödliche Doris-Schlagzeugerin Chris Dreier, während in der Diskothek DNC ein eifriger Türsteher Andy Warhol den Zutritt verweigerte: Er hielt den Mann mit der Perücke für eine schlechtgemachte Kopie.
Hilflos zappelte Iggy Pop derweil in einer Telefonzelle nachts am Winterfeldplatz herum, die Tür hatte sich verklemmt, er kam nicht mehr raus, niemand half. Vermutlich dachten die Passanten: Schon wieder so ein ultrakreativer, sich selbst verwirklichender Performancekünstler.
Unser Autor Wolfgang Müller war immer mittendrin und doch gleichzeitig ein scharfer Beobachter jenes Biotops, das bis heute kurz als „die 80er“ bezeichnet wird. Der Künstler, Kneipier (Kumpelnest 3000) und Musiker („Die Tödliche Doris“) hat mit dem Buch „Subkultur Westberlin 1979-1989“ ein echtes Kleinod über zehn Jahre West-Berliner Nachtleben verfasst. Und sie sind alle dabei: Gudrun Gut und Die Einstürzenden Neubauten, aber auch das „Mädchen vom Bahnhof Zoo“ Christiane F. und die späteren Techno-Akteure Westbam und Dr. Motte. Müllers Buch ist eine Enzyklopädie einer Ära, die das Bild von Berlin in der Welt maßgeblich beeinflusst hat.
Wolfgang Müller, Subkultur Westberlin 1979-1989, Philo Fine Arts, 26 Euro.