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Nachtleben: Das waren die wilden 80er in Berlin

Veröffentlicht: 13. Juni 2016 von Valery Sonntag in Alte Geschichten
Das waren die wilden 80er in Berlin

via Berliner Zeitung

 

Punk Berlin

Nan Goldin fotografierte Dieter Mulz (l.) vom Frontkino und den Autor Wolfgang Müller.

In Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ werden Erinnerungen durch den Geschmack einer Madeleine hervorgerufen. Romy Verbaarsschott aus Den Haag ist 1974 auf der Suche nach der verlorenen Frei-Zeit. Und findet im Kiez um den Nollendorfplatz Räume für ihren Nachtclub Chez Romy Haag. Mit ihrem Show- und Travestieprogramm möchte die Sängerin an Berlins altes Image als Eldorado des Sexualforschers Magnus Hirschfeld und dem Mythos der wilden Zwanzigerjahre anknüpfen.

Sub- und Hochkultur auf Augenhöhe

Allenthalben wird ein baldiges Scheitern des Vorhabens prognostiziert. Doch ihr Etablissement entwickelt sich schnell zu einem der populärsten Orte in der noch geteilten Stadt. Im Chez Romy Haag treffen internationale Popstars wie Lou Reed, David Bowie und Tina Turner auf deutsche Prominente wie Rainer Werner Fassbinder, Ingrid Caven und Udo Kier. Sub- und Hochkultur begegnen sich auf gleicher Augenhöhe. Die Kategorien U und E sind passé. In der Berliner Luft, sagt Romy Haag heute, lag nun eine einzigartige Melange aus den Parfüms Shalimar und Habit Rouge.

Punk-Plakat

Gratis-Salzstangen, offenes Ende:  Filmprogramm im Risiko.

Zu den Besonderheiten der westlichen Stadthälfte zählte nach 1949 die Nichtexistenz einer Sperrstunde. In manchen Lokalen konnte Tag und Nacht getrunken, diskutiert, monologisiert oder gefeiert werden. Dabei begegneten sich pausierende Taxifahrer, Prostituierte aller Geschlechter, Künstler, Schriftsteller, Politaktivisten, Kriminelle, Außenseiter, Einsame und Vergnügungssüchtige. Projekte entwickelten sich im nächtlichen Chaos und wurden bisweilen Realität.

Unterbrechung für eine Stunde – und weiter geht’s

Einer dieser Treffpunkte war das Bierlokal Rote Rosen nahe des aktuell skandalisierten Kotti. Auch heute noch wird gegen fünf Uhr der Getränkeausschank für eine Stunde unterbrochen, der Boden gewischt und die WCs gereinigt – und weiter geht’s. Seit der Einführung des Nichtraucherschutzgesetzes nennt sich Rote Rosen trotzig „Raucherlokal“. In den Achtzigern trank hier Dramaturg Heiner Müller gern einen Whisky mit Freunden. Gegenwärtig mischen sich vermehrt Hipster und junge Touristen aus aller Welt unter die rarer werdenden Stammgäste. Dass Kreuzberg durch den extremen Zulauf Vergnügungssüchtiger aus aller Welt aktuell auch eine entsprechende Zunahme von Taschendieben, Kriminellen und – nicht zu vergessen – schamlosen Mieterhöhungen verzeichnet, ist hässlich, und Beweis für boomendes Nachtleben.

50 Punks und eine Torte

Noch 1978 landete das SO 36 mit einem ironischen Mauerbau-Jubiläum wie ein Ufo im autonomen Kreuzberger Hippieland. Lokale und internationale Punkbands spielten. Iggy Pop war da, als eine Replik der Berliner Mauer in Gestalt einer Torte angeschnitten wurde. Um Mitternacht, so berichtet Bowie später begeistert in einer TV-Show, hätten sich 50 Punks auf die Mauertorte gestürzt, sie zerteilt und restlos verspeist. In Kreuzberg dominierten damals Spontis und Polit-Anarchisten. „Es gab noch keine Punkkneipen, nur gruselige Alt-68er Spelunken wie das Max und Moritz oder die Rote Harfe“, erinnert sich Thomas Voburka. Er kellnerte in Ingrid und Oswald Wieners Künstlerrestaurant EXIL am Paul-Linke-Ufer. Geschätzten Gästen wie Künstler Dieter Roth oder Joseph Beuys wurde um Mitternacht noch Tafelspitz serviert.

Tanz-Punk-Berlin

Tanz um die Blechdose: Die Band Die Tödliche Doris mischt an der  Bierfront  ganz vorne mit.

Der Dschungel wurde von Bowie besungen

Zur gleichen Zeit eröffnete in Schöneberg der Dschungel, von Bowie 2013 retrospektiv in „Where are we now?“ besungen. Die Nachtschwärmer, die seinerzeit durch die kohlenstaubgeschwängerte Berliner Winterluft ihrem Ziel Nürnberger Straße 53 entgegenschwirrten, landeten in einer strahlenden New-Wave-Diskothek. Eine elegante Wendeltreppe führte vom Erdgeschoss zur Empore. Dort mixte der hagere Bauzeichner Wolfgang Cihlarz schrille Cocktails, bevor er als Salomé mit großformatigen neo-expressiven Gemälden zum internationalen Shooting-Star wurde. Auf den gelb-schwarzen Mosaik-Fliesen, unter kühlem Neonlicht fühlten sich die Gäste wie auf einem fremden Planeten.

Kein Hinweisschild am Eingang

Von außen versperrten Jalousien den Blick ins Innere – kein Schild, kein Hinweis fand sich an der Eingangstür. Die Szene war extrem überschaubar. Im Grunde ließen die Türsteher jeden hinein – außer Politfreaks mit Bart, Brille und Karo-Hemd beziehungsweise Frauen in selbstgehäkelten Ökogewändern. Im Dschungel tanzte jede schrille Kleidermotte möglichst anders als alle anderen, was am Ende überraschende Ähnlichkeit erzeugte.

Der Mythos seiner Exklusivität entstand mit steigender Popularität. Irgendwann sprach sich herum, dass im Dschungel Liza Minnelli und Prince ohne Bodyguards aufgetaucht waren oder Nina Hagen gratis Grimassen zog. Um den Andrang abzuwehren, wurde Eintritt erhoben und eine Clubmarke für Prominente und Stammgäste geprägt. „Der Eintritt und die Marken waren der Anfang vom Ende, das war damals wie heute meine Meinung“, sagt bis heute DJ Jurij Panfilowitsch. Doch was tun, wenn sich der Ruf verselbstständigt und ein sogenannter Geheimtipp populär wird?

Im 1988 eröffneten Kumpelnest 3000 in der Lützowstraße löste sich dieses Problem zunächst von selbst. Es war die Anwesenheit von Dagmar Stenschke, kurz: Sunshine. Die Einzelgängerin schlug manchmal wild um sich und griff spontan nach den Drinks der Gäste. Wer mit ihrem Verhalten klar kam, der kam wieder, andere verzichteten. „Sunshine war eine Türsteherin des Inneren!“, stellt Tennislehrer und Stammgast Andreas Reiberg fest. Karl Lagerfeld kam bei seiner Fotosession mit Zazie de Paris jedenfalls bestens klar mit der Lady Di von Kreuzberg. Viele Nachtfalter vertrugen Sunshine sogar deutlich besser, als das selbstgebraute Space-Beer aus der Szene-Location Fischlabor.

Frauen als Gründerinnen

Zahlreiche Legenden des Berliner Nachtlebens wurden von Frauen gegründet. So eröffnete Anne Wilke das Punklokal Shizzo 1980 im gutbürgerlichen Friedenau. Die Konzerthalle Loft am Nollendorfplatz leitete Monika Döring, Gudrun Gut und Bettina Köster erfanden das Eisengrau, einen Kultladen für Mode, Fanzines und Musik ein paar hundert Meter weiter in der Goltzstraße.

Auch das für Oskar Röhlers letzten Mutterverarbeitungsfilm 2015 perfekt nachgebaute Schöneberger Punklokal Risiko in der Yorckstraße entstand aus einem Lesbenlokal, dem Blocksberg. Es waren Stefanie Mahlknecht und Freundinnen, die 1980 das Lokal der queeren Kunst- und Punkszene unter dem Namen Risiko öffneten: Der Regisseur und Autor Jörg Buttgereit präsentierte hier 1981 die allererste Hitlerparodie der deutschen Nachkriegszeit – noch auf Super-8. Die coolen Jungmachos, die in Röhlers autobiografischem „Tod den Hippies, es lebe der Punk“ am Tresen stehen, entdeckten das Lokal, nachdem der Spaß längst vorbei war: Im Risiko rettete der 1983 nach West-Berlin gezogene Australier Nick Cave das durch den Einfluss von Romy Haag, Glamrock und Foucault-Lektüre schwer irritierte traditionelle Männerbild. Statt Rotwein und Pfeife am Kaminfeuer begleitete den post-existenzialistischen Herrenabend fortan brauner Tequila, schwarze Gitarrenkoffer, Koks und Speed.

Es geht Richtung Kreuzberg

Die queeren Nachteulen hatten sich da längst Richtung Kreuzberg abgesetzt, ins Frontkino oder die Oranienbar, wo die namenlose, heute weltberühmte New Yorker Fotografin Nan Goldin bizarre Geschöpfe wie den Gonzo-Journalisten Tom Kummer oder die Künstlerin Kiki Smith ablichtete. Im Schaufenster der Kultstätte strippten der kanadische Escort-Boy David Steeves und die Tödliche Doris-Schlagzeugerin Chris Dreier, während in der Diskothek DNC ein eifriger Türsteher Andy Warhol den Zutritt verweigerte: Er hielt den Mann mit der Perücke für eine schlechtgemachte Kopie.

Hilflos zappelte Iggy Pop derweil in einer Telefonzelle nachts am Winterfeldplatz herum, die Tür hatte sich verklemmt, er kam nicht mehr raus, niemand half. Vermutlich dachten die Passanten: Schon wieder so ein ultrakreativer, sich selbst verwirklichender Performancekünstler.

Unser Autor Wolfgang Müller war immer mittendrin und doch gleichzeitig ein scharfer Beobachter jenes Biotops, das bis heute kurz als „die 80er“ bezeichnet wird. Der Künstler, Kneipier (Kumpelnest 3000) und Musiker („Die Tödliche Doris“) hat mit dem Buch „Subkultur Westberlin 1979-1989“ ein echtes Kleinod über zehn Jahre West-Berliner Nachtleben verfasst. Und sie sind alle dabei: Gudrun Gut und Die Einstürzenden Neubauten, aber auch das „Mädchen vom Bahnhof Zoo“ Christiane F. und die späteren Techno-Akteure Westbam und Dr. Motte. Müllers Buch ist eine Enzyklopädie einer Ära, die das Bild von Berlin in der Welt maßgeblich beeinflusst hat.

 

Wolfgang Müller, Subkultur Westberlin 1979-1989, Philo Fine Arts, 26 Euro.

„So ist das“

Veröffentlicht: 27. Mai 2016 von Valery Sonntag in Alte Geschichten
Nachruf auf Harald Nowroth (Geb. 1948) von Erik Steffen (Tagesspiegel)
„So ist das“  

… sagte er immer. Sollte heißen: Kann sowieso keiner was dran ändern, am wenigsten er selbst. Fuhr LKW, saß im Knast, kam nach Kreuzberg, verkaufte feine Lebensmittel. Und wurde nie zum Feinschmecker. So war das.

Harald Nawroth (1948-2016) in den Achtzigern

Harald Nawroth (1948-2016) in den Achtzigern – FOTO: PRIVAT

Der Abschied im „Elefanten“, der Kreuzberger Kiezkneipe, in der der Film „Herr Lehmann“ gedreht wurde. Freunde berichten von Harrys Lebensstationen (Harald hat ihn keiner genannt). Einer liest einen Text des Ruhrpottdichters Fritz Eckenga. Auf Hermann Hesse hätte Harry geschissen, Literatur war sowieso nicht seins, strengt an, doofe Mehrarbeit, wenn er auf der langen Buchnacht im Garten des Blauhauses Würstchen grillen musste. Dabei war er vom „Steppenwolf“ gar nicht so weit entfernt: ein Solitär, brummbärig, mit einem Lebensfilm jenseits von Karriereplänen, Konsumwünschen und Anpassung. Altes Kreuzberg eben. Allein, eigenes Universum mit klaren Grenzen. Ein Feinkostladen im Schatten der Mauer, SO 36, Oranienstraße, im Armenhaus von West-Berlin.

Punks versoffen ihre Sozigage vor dem Laden, er hatte mit seinem Chef Hille Edelpils, Wurst und Käse, belegte Brötchen und bewegtes, gelebtes Leben im Angebot. Dem ein oder anderen hat er Episoden erzählt, meist unter Einwirkung erheblicher Mengen Bier. Zum Schluss sagte er immer: „So ist das.“ Sollte heißen: Kann sowieso keiner was dran ändern, am wenigsten er selbst.

In Dorsten, 40 Kilometer nordwestlich von Dortmund, wächst Harry im Einfamilienhaus mit Garten auf: Vater Bergbauingenieur, Mutter Hausfrau. Als er vier ist, zieht die Familie nach Wales, weil der Vater hier einen Job bekommt. Schullaufbahn ebendort. Harry behauptete immer, er könne die Waliser verstehen, die Engländer aber nicht. Wer Englisch sprach, den hat er später dann im Laden sowieso nicht bedient.

„Hol mal Wasser für die Wasserwaage!“

Sechs Jahre Wales also, dann wieder zurück nach Dorsten, ein Schock. Vater stirbt bei einem Bergwerksunfall. Harry hat ihn verehrt, das Interesse für Technik kommt von ihm. Selbst gebaute Dampfmaschinen, Lötkolben, selbst gedrechselte Schrauben und Muttern, alles ist Mechanik, nichts ist jemals fertig. An Zwischenstadien kann er sich erfreuen, Kippe im Mund, Bierflasche in der Hand, stolz. Die gasbetriebenen Maschinen könnten explodieren, egal.

Nach der Schule Ausbildung in „Gas Wasser Scheiße“. Was bleibt davon noch nach Jahrzehnten? Die Freude, wenn man einen Unbedarften losschickt „Wasser für die Wasserwaage holen“.

Eine kurze berufliche Episode unter Tage, vielleicht eine Ehrerbietung an den Vater. Ist nicht seins.

Seine Bestimmung: Lkw-Fahrer. Lange Haare, Kippe, Musik am Anschlag. 1968 heiratet er Heidi. Schnell kommen Thomas und Anja zur Welt, fast so schnell ist die Familie Geschichte. Heidi macht als Personalmanagerin Karriere bei einem Stahlkonzern. Harry gibt sich damit zufrieden, den Lkw bis nach Frankreich zu fahren. So erobert er die Welt. Sein erster Deal: Er lässt den Lkw unabgeschlossen auf dem Parkplatz stehen, übernachtet im Motel, am nächsten Morgen ist alles woanders, Ladung und Gefährt. Geht so oft gut, bis es auffällt. Sieben Jahre verbringt Harry hinter Gittern, für ihn kein Weltuntergang. Als Handwerker mit Privilegien ausgestattet, hat es ihm vor allem das Knastradio angetan. Hier kann er seine technischen Ambitionen einbringen: Musik durch die Lautsprecher jagen, Briefe und Grüße verlesen, ein paar Mal im Monat für eine Stunde Gott im vergitterten Mikrokosmos spielen.

Ende der Siebziger in West-Berlin, Harry auf Trebe. Kurzerhand besetzt er eine Laube am Tempelhofer Feld. Die Besitzer, Freaks aus Kreuzberg, registrieren merkwürdige Veränderungen, die auf einen unbekannten scheinbar unsichtbaren Mitbewohner weisen. Der erste Kontakt: verkehrte Welt. Ohne eine Spur Unrechtsbewusstsein geht Harry in die Offensive, als wäre er der Eigentümer. Die echten Eigentümer sind beeindruckt und bieten ihm prompt ein Zimmer in ihrer Wohnung in der Oranienstraße an.

So zieht er bei Hille und Co. ein, auch wenn der ganze Hippiekram nicht seins ist. Aber dem Entwurzelten wird eine Ersatzfamilie geboten. Im Gegensatz zu den Hippies aus dem Schwarzwald verfügt er über handwerkliches Geschick. Kommt jemand in der Nacht auf die Idee, eine tragende Wand durchzustemmen, um zwei Wohnungen miteinander zu verbinden, weiß Harry, wie man so etwas angeht, ohne dass das Haus einstürzt. Dagegen sind Hochbetten aus geklauten Achterbalken ein Klacks. Sein größtes Projekt ist der Ausbau des Ladens von „Lebensmittel Hillmann“ 1984. Dort sollen unter anderem Biere verkauft werden, die in West-Berlin noch als exotisch gelten, „Flens“ etwa. Davon ist schon reichlich vorhanden, als Harry die Bauarbeiten leitet; eine Phase, die ihm in guter Erinnerung bleibt, weil Bier während der Arbeitszeit erlaubt ist. Zumal dieses mit Bügelverschluss, der so schön Plopp macht, sein Lieblingsbier, weil Werner aus dem Comic das auch immer trinkt. Wenn Passanten fragen: „Was trinkt ihr denn da?“, antwortet Hille: „Nur für die Belegschaft!“

Trinkergemenschaft mit Katze, Aquarium und Hirschteppich

Mitte der Achtziger dann die Wohngemeinschaft mit Wolfgang in Wilmersdorf – eigentlich eine Trinkgemeinschaft mit Katze, Aquarium und Hirschteppich überm Sofa. Dunkle, schlichte Behausung, ganz nach Harrys Geschmack. Mit Wolfgang besucht Harry gern und regelmäßig die Kneipe „Phönix“. Da wird ihm bald eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen: Kassenwart des Sparvereins! Verwalter des Sparschranks, in den Mitglieder allabendlich Groschen einwarfen, um am Ende des Jahres die Ausschüttung in noch mehr Bier umzusetzen. Auch in Hilles Laden überzeugt er die jugendlichen Hilfskräfte von der Sparidee. Bei Anschaffungen stockt er deren Ansparungen großzügig auf.

Kinder mag er. Er bietet ihnen eine Scheibe Fleischwurst im Tausch gegen den Schnuller an.

1986 bricht sich Hille den Oberschenkel. Not am Mann, Harry versucht es zum ersten Mal hinterm Ladentisch. Der kleine Dicke übt verkaufen. Eines Tages kommt Viviane in den Laden und will 50 Gramm Chorizo erwerben. Chorizo? Viviane zeigt auf die Wurst, Harry bequemt sich an die Schneidemaschine und schneidet munter drauflos. „Ganz schön viel für 50 Gramm!“ Mit den Mengen hat er es nicht so.

Irgendwie fuchst er sich dann aber doch noch ein ins Geschäft mit Wurst und Käse, und bleibt ihm für den Rest seines Lebens treu. Feinschmecker wird er trotzdem nie. Seine Lieblingsspeisen: Pizza mit Fischstäbchen drauf und Panhas, Blutkuchen aus der westfälischen Heimat. Über das Innenleben von Leberwurst kann er philosophieren, aber Kundenfragen zu Oliven schmettert er ab. „Oliven? Kenn’ ich nicht. Wächst nicht in Westfalen!“ Mediterran geht ihm am Arsch vorbei. Genau wie später die neue Kundschaft mit Handys und der „Schaut mal, was ich mir leisten kann“-Mentalität. Keine Punkte. Schon eher Punks, die sich am Monatsersten was gönnen wollen, und wenn’s nur Matjesbrötchen sind.

Harald Nawroth (1948-2016)

Harald Nawroth (1948-2016) –  FOTO : PRIVAT

Der kleine Laden läuft, eine Erfolgsgeschichte im Kiez. Harry ist umgeben von weiblichem Personal, das er wie Viviane damals selbst angeworben hat. Der Hahn im Korb, dem behutsam das Macho-Gehabe ausgetrieben wird. Wenn er die Frauen weiterhin „mein Sonnenschein“ oder „Hexe“ nennt, lächeln sie mild. Seine Schichten plant er, wann immer möglich, um die Feiertage herum, wenn sich möglichst wenig Kunden in der Stadt aufhalten. Wenn es ihm zu dick kommt, erstarrt er zur Salzsäule. Ansonsten pfeift er mehr schlecht als recht Gassenhauer wie „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ oder zitiert Heinz Erhard. Und erwartet sehnsüchtig sein Feierabendbier an der Tonne im „Elefanten“.

Sein Leben scheint in festen Bahnen mit Familienersatz und Arbeitsstelle. Bis eines Tages ein Polizeiauto vorm Laden hält. Hille scherzt noch „Harry, jetzt kommen sie dich holen!“ Sechs Monate wegen Unterhaltsschulden für ein drittes uneheliches Kind.

1999 zieht Harry zu Viviane in die Fabriketage, die er vor zehn Jahren für sie ausgebaut hat. Sie ist eine gute Freundin, sie managt alle Haushalts- und Wohnungsfragen. Er blüht auf, hat sogar ein Bastelzimmer. 2012 der Schock, sie müssen die Wohnung gegenüber dem Laden nach einer heftigen Mieterhöhung aufgeben und leben fortan beengt in Neukölln. Seit 2013 bekommt Harry Rente. Und arbeitet weiter im Laden, was soll er auch sonst tun? Der Lichtblick: Seine Tochter Anja nimmt Kontakt auf.

Zum Arzt geht er erst, als alle ihn drängen. Aus der Bandscheibenproblematik wird eine Herzgeschichte. Der Arzt ist überrascht: „Der agilste Herzkranke, den ich je gesehen habe!“ Er irrt sich. Zusammenbruch in der Wohnung, Viviane in Italien, Freunde, die ihn vermissen. Die Polizei öffnet die Tür, zu spät.

Lemmys Sprüche

Veröffentlicht: 3. Januar 2016 von Valery Sonntag in Alte Geschichten, Interessant!
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Lemmy Kilmister ist tot. Der Motörhead-Frontmann ist wenige Tage nachdem er die Krebsdiagnose erhalten hatte gestorben. Wir fassen noch einmal seine markigsten Sprüche aus den 70 Jahren der britischen Metal-Legende zusammen.

Lemmy Kilmister über Motörhead

Bild zu Lemmy Kilmister tot, Konzert Klettwitz 2004
  • „Das ‚ö‘ in Motörhead hat keine besondere Bedeutung. Es sieht einfach gemeiner aus – deutscher.“
  • „Mit uns konnten die Amerikaner nicht so richtig was anfangen. […] Ich glaube, ein großer Teil des Mittelwestens hatte ziemliche Angst vor uns.“
  • „Wir mussten so laut spielen, weil wir vor lauter Taubheit sonst nichts gehört hätten. […] Beim Soundcheck rief ein Typ aus vier Meilen Entfernung an, um sich zu beschweren, dass er seinen Fernseher nicht mehr hören konnte.“
  • „Mein Rausschmiss bei Hawkwind hatte in den britischen Musikgazetten für einigen Wirbel gesorgt. Alle wollten wissen, was ich denn nun vorhätte. Dem Sounds [britisches Musikmagazin, Anm.] erklärte ich: ‚Es wird die dreckigste Rock-’n‘-Roll-Band der Welt sein. Wenn wir nebenan einziehen würden, würde dein Rasen eingehen.'“

Lemmy Kilmister über das Leben als Rockstar

  • „Ehefrauen auf Tournee sind schlimmer als der Zweite Weltkrieg.“
  • „Die Leute wollen nicht ihren Nachbarn auf der Bühne sehen, sondern ein Wesen von einem anderen Planeten.“

Lemmy Kilmister über Drogen

Bild zu Lemmy Kilmister tot, Konzert Interlaken Greenfield Festival 2015
  • „Wenn wir high waren, gingen wir immer in den Park und redeten mit den Bäumen – und manchmal gewannen die Bäume die Diskussion.“

Lemmy Kilmister über seine frühen Jahre

  • „Das war eine super Zeit, der Sommer von 1971. Ich kann mich nicht an die Zeit erinnern – aber ich werde sie niemals vergessen.“
  • „Mein Stiefvater besorgte mir dort einen Job in einer Fabrik. Einer Waschmaschinenfabrik! […] Ich hatte aber andere Pläne mit meinem Leben. Also ließ ich meine Haare wachsen, bis die Fabrik mich feuerte.“
  • „Den Job in der Reitschule nahm ich an, weil ich Pferde mochte. Das tue ich noch immer, denn Pferde machen Frauen scharf.“

Lemmy Kilmister über Religion

  • „Weshalb ich Atheist bin? Eine Jungfrau wird von einem Geist geschwängert? Come on! Piss off!“
  • „Scheiß auf Gott und scheiß auf den Teufel und auch auf die Kirche. Ich allein bin verantwortlich für meine Taten. Ich muss mich hinter nichts verstecken. Ich habe es getan, was auch immer ich getan habe.“

Lemmy Kilmister über das Leben

Bild zu Lemmy Kilmister tot, Konzert London 2015
  • „Ein guter Freund ist einer, der dich verstecken würde, wenn du wegen Mordes gesucht wirst. Wie viele von denen kennst du?“
  • „Man muss im Leben lachen. Lachen trainiert alle Gesichtsmuskeln und hält dich jung. Ernst zu schauen verursacht schreckliche Falten. Ich rate auch zu starkem Trinken – das hilft dem Sinn für Humor auf die Sprünge.“
  • „Ich sehe nicht aus wie ein Gentleman – ich benehme mich wie einer.“
  • „Warum sollte jemand entscheiden, wann man zu alt für etwas ist? Ich bin nicht zu alt. Und solange ich nicht selbst entscheide, dass ich zu alt bin, werde ich das verdammt nochmal auch nicht sein.“
  • „Ich bereue nichts. Reue ist sinnlos. Du hast es ja schon gemacht – du hast dein Leben gelebt. Es nützt dir nichts, zu wünschen, es wäre anders.“
  • „Wenn du nie etwas getan hast, das nicht gut für dich war, dann hattest du ein ziemlich langweiliges Leben. […] Alles, was Spaß macht, ist gefährlich. Ich würde gerne den Mistkerl finden, der sich das ausgedacht hat.“

Lemmy Kilmister über den Tod

Bild zu Motörhead, Lemmy Kilmister tot
  • „Scheiß auf diesen ‚Sprich nicht schlecht über die Toten‘-Mist! Menschen werden nicht netter, nur weil sie tot sind. Die Menschen sind immer noch Arschlöscher, nur eben tote Arschlöscher.“
  • „Der Tod ist unvermeidlich, oder? […] Mir macht das keine Sorgen. Ich bin vorbereitet. Wenn ich abtreten muss, dann während ich das tue, was ich am besten kann. Sollte ich morgen sterben, ich könnte mich nicht beschweren. Es war eine gute Zeit.“

 

@web.de

Immer wieder lesenswert. Der Blog von Marcus Kluge.
Prädikat: Empfehlenswert!

marcuskluge

2013-09-04-17-10-50_new4

Lesung mit Bildern – Die West-Berlin-Trilogie von Marcus Kluge
Musikalischer Gast: Lüül
Buchpremiere „Xanadu ’73“ am Sonntag, den 30.8. um 19.30 Uhr
in der Kulturwerkstadt Danckelmannstr.9a


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Kürzlich erschien der erste Band der Roman-Trilogie von Marcus Kluge in der „Edition Assassin“ als Buch. Möglich wurde das durch über 100 Förderer, die unsere Crowdfunding-Kampagne unterstützt haben. Das wollen wir mit einer illustrierten Lesung und einem musikalischen Überraschungsgast feiern. Der Ur-West-Berliner Ausnahmemusiker Lüül wird uns unplugged eine Kostprobe aus seinem aktuellen Album „Wanderjahre“ geben. Das, als Singleauskoppelung erfolgreiche Lied „West-Berlin“, wird bestimmt dabei sein, den es passt perfekt zum Thema des Abends. Alle Unterstützer, Freunde und Neugierige sind herzlich eingeladen. Der Eintritt ist frei.

Ich lese aus „Xanadu ’73 – Liebe, Rausch und Rock’n’Roll“, dem ersten Band und der 1981 spielenden Fortsetzung „Ein Hügel voller Narren“, sowie dem „Xanadu-Fanheft“. Der Illustrator und Buchgestalter Rainer Jacob zeigt dazu seine Zeichnungen und historische Originalfotos…

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Empfehlung – Deutsche Welle

Veröffentlicht: 6. April 2014 von Valery Sonntag in Alte Geschichten
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Interessantes zur alten Mauerstadt und dem Leben als Szene-Jugendlicher.

DeutscheWelle

 

Westberlin in den 80ern – Das war der wilde Westen | Tip Berlin

Veröffentlicht: 26. Januar 2013 von Valery Sonntag in Alte Geschichten

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